Die Geschichte der Ju 388 in Silver Hill

Die Ju 388 L-1, Werknummer 560049, die von den US-Streitkräften erbeutet wurde und sich heute im NASM befindet, trägt auf dem Typenschild als Herstellerangabe lediglich den Code "rrx". Durch Zufall kam ich in den NASM-Archiven in Besitz von Dokumenten, die belegen, daß die 560er Serie von Weserflug in Liegnitz in Schlesien gefertigt wurde. Da wäre zunächst der Reisebericht der Herren Brachvogel und Lantzsch von ATG vom 6.12.1944:

Außerdem schreibt die FTA-Stelle beim Erprobungskommando 8-388 in ihrem Monatsbericht November vom 2.12.1944:

Die ersten Maschinen von ATG (Altenburg) und Weserflug (Liegnitz), die hier angeliefert wurden, zeigten bei der Übernahmekontrolle viele Beanstandungen. Prüfberichte gingen an FSD-Prüfwesen und FTAB.

Weiter unten heißt es im selben Dokument unter einer Tabelle mit der Monatsübersicht der Flugzeuge des E-Kommandos im November:

Werk-Nr. 560 041 wurde am 8.11. von Liegnitz angeliefert und nach Übernahmekontrolle am 27.11 nach Schleuse Welzow abgegeben.
Werk-Nr. 560 042 wurde am 19.11. von Liegnitz angeliefert und steht in Übernahmekontrolle.
Werk-Nr. 560 043 wurde am 9.11. von Liegnitz angeliefert und nach Übernahmekontrolle am 27.11 nach Schleuse Welzow abgegeben.

 

War die 388 in Silver Hill mal eine 188?

Als ich am 30.8.1999 der Ju einen Besuch in Silver Hill abstattete, entdeckte ich beim Herumleuchten mit meiner Taschenlampe im Bombenraum zwei weitere Typenschilder mit 188er Sachnummern. In der oberen Rumpfschale war es eines mit der Sachnummer 188.111, Werknummer 6071, Hersteller hlr = ATG, Werk Altenburg. In Altenburg fand das Einfliegen der von ATG gefertigten Ju 388 statt, das Gesamtprogramm ATG sollte laut Bericht Nr. 1084/44 von Ing. A. Reichel (BMW EZA/2) vom 15.11.1944 ab Dezember 1944 auf die Zusammenbauwerke Kölleda und Leipzig-Seehausen verteilt werden. Das Typenschild aus der unteren Rumpfschale ist links abgebildet. Der Herstellercode mde steht für das Metallwerk Niedersachsen Brinckman & Mergell in Hamburg-Harburg.
Heißt das nun, daß unsere Ju 388 aus einer Ju 188 entstanden ist? Sicherlich ist eine 188er Sachu
mmer kein Beweis dafür, denn die Grundidee der Ju 388 war ja, möglichst viele Großbauteile aus der laufenden 188er Serie zu übernehmen, und ursprünglich wurde die Ju 388 L  als Ju 188 L bezeichnet. Somit ist noch zu klären, ob es sich beim Rumpf um ein Neuteil handelt, oder ob es aus einer Ju 188 stammt.


Hat die Ju 388 in Silver Hill ein Stammkennzeichen?

Auf keinem der bisher bekannten Fotos der Werknummer 560049 ist auch nur die Andeutung eines Stammkennzeichens zu sehen. Ebenso wie die meisten späten ATG-Flugzeuge trägt die Maschine nur die Hoheitsabzeichen. Im Flugbuch von Fl. Stabsing. Alfred Kuhn, dem stellvertretenden Typenbegleiter der Ju 388, finden sich für die von Liegnitz im November 1944 an das EKdo 388 gelieferten Werknummern 560 041, 560 042 und 560 043 (s.o.) die Stammkennzeichen PT+HA, PT+HB und PT+HC. Somit könnte man der Werknummer 560049 durch Extrapolation das Stammkennzeichen

PT+HI

zuordnen. Da die Lebenslaufakte der Maschine bisher nicht aufgetaucht ist, kann man allerdings nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob das Flugzeug letztlich dieses Stammkennzeichen hatte.

 

Erbeutung und Erprobung in den USA

Die Geschichte der Erbeutung durch die Alliierten ist eng mit dem bekannten USAAF Air Intelligence (ATI) Team der Watson Whizzers verbunden. Diese Truppe "sammelte" noch während der oftmals chaotischen Schlußphase der Kampfhandlungen in einem als Operation Lusty bezeichneten Projekt mehr oder weniger systematisch interessantes deutsches Fluggerät. Eines der Teams stieß, von Halle/Saale kommend, unter anderem (angeblich) mit erbeuteten Fi 156, auch nach Merseburg vor, wo man eine Ju 388 L-1 für sich beschlagnahmte - "unsere" Werknummer 560049.

Mitglieder der 99th Air Service Squadron der zur 9th US Air Force gehörenden 365th Fighter Group wurden damit betraut, das Flugzeug zu untersuchen und, falls möglich, flugbereit zu machen. Die Männer um Crew Chief Tommy Haworth fanden die Ju 388 vollgetankt in einer Halle. Aus Angst vor Sprengfallen wurde die Maschine mit äußerster Vorsicht genauestens untersucht, alle Wartungsklappen wurden geöffnet, hinter allen Verkleidungen wurde nach Sprengstoff gesucht. Das Flugzeug wurde aufgebockt, um das Fahrwerk testen zu können, auch die Landeklappen wurde geprüft. Im Bombenraum fand man keine Kameras. Um die Maschine in Gang setzen zu können, mußte das Cockpit gründlich untersucht werden. Dies wurde dadurch erschwert, daß Haworth zwar einen Dolmetscher hatte, dieser aber keinerlei Kenntnisse über Flugzeuge besaß. Haworth hatte bei jedem Schalter, den er umlegte, und jedem Knopf, den er drückte, Angst, dass die Maschine explodieren würde. Schließlich hielt man es für sicher genug, die Motoren anzulassen, und Haworth setzte sie, immer noch eine Explosion fürchtend, in Gang. Weil die Zylindertemperatur rasch die kritische Marke erreichte, mußten die Motoren immer nach je 5 Minuten Standlauf wieder abgestellt werden. Diese Maschine absolvierte Testflüge mit alliierter Besatzung in Merseburg, bevor man beschloss, die Maschine am 20. Mai nach Kassel/Waldau zu überfliegen. Weil die Maschine noch deutsche Hoheitszeichen trug, wurde die US-Besatzung, zu der auch ein Major gehörte, auf dem Flug von drei P-38 eskortiert.

Links: Dieses bislang unbekannte Foto wurde 1945 in Merseburg aufgenommen. Mitglieder der 99th Air Service Squadron der 365th Fighter Group der Ninth Air Force posieren vor der erbeuteten Maschine, die noch die originale Bemalung mit deutschen Hoheitszeichen trägt. Die Aufgabe der Männer war es, das Flugzeug zu untersuchen und für den Transport in die USA vorzubereiten.
Rechts: Männer der selben Einheit bei Wartungs- und Reparaturarbeiten an der Maschine.

Links: Nachdem das Flugzeug eingehend auf Sprengfallen untersucht worden ist, wird der rechte Motor von Thomas Haworth angelassen und spuckt jede Menge Qualm, während der linke noch steht.
Rechts: Standlauf in Merseburg. Die beiden BMW 801 TJ-0 Motoren laufen erstmals seit der Kapitulation wieder. Vielleicht sind dies die weltweit einzigen Bilder, die eine Ju 388 mit laufenden Motoren zeigen.
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Der Flug dauerte von 14:30 bis 15:30, und Watson war scheinbar selbst an Bord. Von dort sollte sie nach der ursprünglichen Planung der Watson Whizzers über Prestwick nach Island fliegen und über Grönland den Nordatlantik(!) überqueren, um nach Wright Field zu kommen. Tatsächlich wurde sie dann aber gemeinsam mit einer ganzen Reihe von als interessant erachteten Luftwaffe-Maschinen (Me 262, Ar 234, Do 335, He 219, Ta 152, etc.) in der Operation Sea Horse am Begleitflugzeugträger HMS Reaper in die USA verbracht. Dazu wurde die Maschine am 17. Juni, so wie die meisten anderen Maschinen, auf dem Luftweg nach Cherbourg/Querqueville geflogen.

Diese Aufnahmen, die freundlicherweise von Mr. Crow zur Verfügung gestellt wurden, zeigen, daß die Maschine in der Tat mit US-Kennzeichen überführt wurde, die dann später wieder durch deutsche Kennzeichen ersetzt wurden. Der Flugplatz ist (noch) nicht bekannt.

Die Seereise, auf die die 388 gemeinsam mit den anderen deutschen Beutemaschinen geschickt wurde, begann mit dem Auslaufen aus Cherbourg am 20. Juli 1945 und dauerte acht Tage. In Newark, New Jersey, wurden sämtliche Maschinen ausgeladen und setzten die Reise im Fluge oder per Bahn nach Freeman Field fort .

Die erbeutete Maschine mit der Werknummer 560049 erhielt zuerst die Kennung FE-4010, die später in T-2-4010 geändert wurde. In Freeman Field fand die Erprobung statt. Dort wurde die Maschine sogar im September 45 der Presse vorgeflogen.

Diese Aufnahmen zeigen die Maschine während der Flugerprobung in den USA auf einem bisher nicht näher bekannten Flugplatz. Der Anstrich ist - bis auf die unfachmännisch wieder angebrachten deutschen Hoheistszeichen - weitgehend im Originalzustand, daher kann man annehmen, daß die Aufnahmen in einer frühen Phase der Erprobung gemacht wurden. In diesem Anstrich stand die Maschine auch auf der Kriegsbeuteschau in Dayton/Ohio. Auf dem Foto ganz links ist die Antenne für den amerikanischen Radiokompass beachtenswert.
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Am 30. September 1945 kam sie nach Wright Field, von wo sie im Juni 1946 nach Freeman zurückkehrte und in flugfähigem Zustand erhalten wurde. Nach Beendigung ihrer aktiven Flugkarriere war sie für die Einlagerung in Davis-Monthan AFB vorgesehen, wurde im September 1946 aber tatsächlich in Park Ridge, Illinois eingelagert. Von dort kam sie ins National Air and Space Museum, Außenlager Silver Hill, wo sie heute noch, in Großbauteile zerlegt, auf ihre Restaurierung wartet. Da die Maschine noch in verhältnismäßig gutem Zustand ist, soll sie ab 2003 unrestauriert im Erweiterungsbau des NASM am Dulles International Airport ausgestellt werden.

Links: Die Ju 388 auf der Kriegsbeuteschau in Dayton. Das Bild wurde am Tag vor der offiziellen Eröffnung gemacht. Im Hintergrund sieht man die berühmte Ju 290 "Alles Kaputt", eine der wenigen Beutemaschinen, die auf dem Luftweg in die USA überführt wurden.
Rechts: Diese Aufnahme wurde kurz vor der Einlagerung für das NASM gemacht und war schon in zahlreichen Veröffentlichungen zu sehen. Danke an Russ Lee vom NASM für dieses Bild!
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Hinweis: Die Hakenkreuze auf dieser Seite wurden - unschwer erkennbar - meist retuschiert. Hier geht es zwar ausschließlich um  Technik und Technikgeschichte, aber man kann nicht oft genug erwähnen, daß die politischen Rahmenbedingungen zwischen 1933 und 1945 ohne jeden Zweifel verachtenswert waren und es ewig sein werden!

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© 29.12.2010 by Martin Handig and Christoph Vernaleken. This article may not be published - as whole or in excerpts - in any form without written permission of the authors